Mittwoch, 26. November 2008

Anstand: Zufluchtsort der Kritikunfähigen

Wer Kritik äussert, verstösst gegen die vorherrschende Gesinnung
Besonders beliebt ist, die Gesinnung unter den Begriffen Menschenrechte und Völkerrecht – wohl zwei ehrenwerte Sachen – zu überwachen. Noch schicker ist es, einem anders Gesinnten eine Klage wegen Verletzung der Rassismusstrafnorm anzuhängen.
Oder man übergeht Kritik durch das Pochen auf Anstand:
Man will den Inhalt der Forderungen, die politische Botschaft und die Kritik ersticken mit dem Vorwurf von Stil, Unanständigkeit und Minderwertigkeit!

Das heutige deutsche Wort "Anstand" ist abgeleitet vom Verb "anstehen", "stehen bleiben".

Das Warten geschieht nicht immer aus "anständiger" Rücksicht. Es kann seinen Grund auch in Unentschlossenheit haben, in Bequemlichkeit, "Feigheit vor dem Feind" – oder auch im mehr oder weniger bösartigen Bestreben, den Anderen warten zu lassen.

[Mit der political correctness, der] Doppelzüngigkeit der politischen Sprache kann man die systematische Vernebelung der Motive des politischen Handelns besonders gut verdecken. Zur Eigenart des verkommenen Politikers gehört es, im Kostüm des Biedermannes und des "Gutmenschen mit ethischem Niveau" zu erscheinen, der um seines Nächsten willen zurückstehen, abwarten, eben "anstehen" kann und darum immerzu "Anstand" bewahrt,

Ich habe in meinem Leben oft mehr unter der salonfähigen Verlogenheit – die jedermann als anständig empfand – als unter dem direkten Wort gelitten. Der englische Dramatiker George Bernhard Shaw sagte nicht ganz zu Unrecht: „Anständigkeit ist die Verschwörung der Unanständigen mit dem Schweigen.

Aber zu oft verschanzt man sich hinter Anstandsfragen, um nicht auf berechtigte Anliegen eingehen zu müssen. Man vermeidet aus Anstand zutreffende Kritik oder das Ansprechen von Unangenehmem. Um vermeintlich anständig zu sein, lässt man dem Unrecht seinen Lauf. Die schonungslose Darstellung der Realität, der Lebenswirklichkeit wäre die wohl wichtigste Aufgabe der Politik.

Die Erinnerung an den Ustertag sollte uns alljährlich aufzeigen, wie gross die Gefahr einer Kluft zwischen Regierenden und Regierten werden kann. Und die Politiker aller Zeiten sind aufgefordert, sich den Bedürfnissen der Allgemeinheit nicht mit Stil- und Anstandsvorwürfen zu entziehen, sondern sich der Lebenswirklichkeit zu stellen.
Christoph Blocher anlässlich der Ustertagsfeier vom 23. November 2008 in der Kirche Uster

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