Dienstag, 29. Oktober 2013

HIV in Afrika

Quelle: Blick am Abend vom 28.10.2013, Seite 11

Der US-Amerikaner Robert J. Thornton etwa beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der sogenannten ethnologischen Risikoforschung. Der Anthropologe forscht im Bereich HIV/Aids-Prävention im südlichen Afrika, wo mancherorts bis zu 50 Prozent der Bevölkerung HIV-positiv sind.

Laut Thornton liegt die hohe Verbreitung in dieser Region an dem dort verbreiteten Beziehungssystem mit mehrfachen und gleichzeitigen Partnerschaften. Der weltweit angewandte Präventionsansatz «Abstinenz, Treue, Kondomgebrauch» funktioniert fatalerweise gerade in diesen Ländern nicht. Trotz dem hohen Infektions-Risiko gehen die Menschen immer wieder neue sexuelle Beziehungen ein und verzichten beim Sex auf Kondome. Verhalten sich die Menschen irrational oder fehlt es ihnen einfach am nötigen Wissen?

Thornton kommt nach mehrjähriger Feldforschung zu einem überraschenden Schluss. Grund für das risikoreiche Verhalten ist keine Unlogik, sondern das Gegenteil. So sind diese sexuellen Netzwerke stabiler als andere soziale Netzwerke und verhelfen ihren Beteiligten zu materiellen Gütern, Medikamenten, Jobs oder Karriereschritten. Voraussetzung für ein wirksames Netzwerk ist nun aber, dass die sexuelle Beziehung den Anschein von Seriosität hat beziehungsweise es nicht so aussieht, als wäre die Beziehung eine von vielen. Diese Seriosität wiederum wird über den bewussten Verzicht auf Kondome inszeniert. Erst das Risiko einer Infektion macht also eine sexuelle Beziehung zu sozialem Kapital. Dass viele Menschen den Wert der Beziehung höher bewerten als das Risiko einer Infektion, macht also durchaus Sinn – nicht zuletzt in einem Alltag, in dem zahlreiche andere Bedrohungen wie Hunger, Armut und Gewalt unmittelbarer sind als HIV/Aids.