Dienstag, 6. Dezember 2011

Warum prostituieren sich nicht alle Frauen?

„Es war phantastisch“, schwärmt sie. „Ich verkehrte in den schicksten Bars und Hotels, die Rechnung für ein Abendessen belief sich kaum je auf weniger als 500 Franken, ich wurde mit Schmuck-Geschenken überhäuft, die Männer verwöhnten mich, darüber hinaus verdiente ich tausend Franken pro Tag. Warum machen das nicht alle Frauen, fragte ich mich. Allerdings, räumt sie ein, hatte das Paradies schon auch seine Schattenseiten. „Sex mit fremden Männern?“ „Nein, Auto fahren!“

Sie begann in einem Escort-Service zu arbeiten, nachdem ihre eigene Firma bankrott ging. (…) Neben einem alten Millionär, der ihr 7000 pro Monat plus Miete bezahlt (und sie in seinem Testament gebührend berücksichtigen wird), hat sie noch drei langjährige „Liebhaber“. Damit kommt sie gut über die Runden.

„Girlfriend Experiencde“ (GFE) verbindet die Vorteile der Prostitution (Unverbindlichkeit, Diskretion) mit denen einer Liebesbeziehung (vorgebliche Exklusivität), ohne dass man sich wie bei einer gewöhnlichen Hure abgefertigt fühlen muss und ohne dass man die Risiken einer heimlichen Geliebten (Ansprüche, organisatorische Komplikationen, Gefahr des Auffliegens bei Verheirateten) eingeht. Nicht zuletzt muss sich der Kunde weniger verstellen als bei einer richtigen Freundin. Er muss beispielsweise nicht vorgeben, treu zu sein.

In Westafrika gibt es unter Frauen die Redensart „chic, chèque, choc“, womit gemeint ist, dass man im Idealfall über drei Männer verfügt: einen schicken, einen wohlhabenden und einen fürs Bett. In vielen Ländern Südamerikas, Afrikas oder Asiens ist der Übergang von Gelegenheitsprostituierter zu Geliebter oft fliessend.

Was ist Authentizität, Rollenspiel, Anpassung, Käuflichkeit, wo verläuft die Trennung zwischen (unverstelltem) Privatleben und (verstellter) Professionalität, was ist Identität, Persönlichkeit, gibt es ein Ich oder Liebe jenseits der Masken?

Alles ist heute käuflich, und auf die eine oder andere Art spielen wir fast immer Theater (oder zumindest eine Rolle). Ein Kindermädchen verkauft seine Kinderliebe, ein Psychologe seine Empathie ein Pfarrer Seelsorge, eine Masseuse Zärtlichkeit. Sind die angebotenen Dienste deswegen falsch, verlogen, geheuchelt? Nicht unbedingt. Und umgekehrt: Ist es zwangsläufig schä(n)dlicher, seine Genitalien oder seine Freundschaft zu vermieten, als sich sein Mitgefühl (Therapeuten), seinen Verstand (Anwälte) oder die Gefährdung des Lebens selbst (Soldaten) bezahlen zu lassen?

David Signer in der NZZaS vom 4.12.11, Seite 79

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