Mittwoch, 23. Mai 2012

Sextourismus von Europäerinnen in Afrika

Ganz und gar unversöhnlich ist schliesslich «Paradies: Liebe» von Ulrich Seidl, der sich einem weiteren Phänomen von Wohlstandsverwahrlosung widmet: dem Sextourismus von Europäerinnen in Afrika. Teresa (Margarete Tiesel) ist eine alleinerziehende Mutter aus Österreich. Den Draht zu ihrer Teenager-Tochter hat die Fünfzigjährige verloren. Nun fliegt sie nach Kenya in die Ferien, wo ihr eine Freundin vom Sex mit jungen kräftigen Afrikanern vorschwärmt: «Die nehmen dich, wie du bist.» Bald lässt sich auch die mollige Teresa auf einen Strandjungen ein, der ihr bei Palmenwein das Blaue vom Himmel verspricht, sie aber nach dem Beischlaf zu Verwandten führt, die Geld brauchen. «Ich habe ausführlich über Sextourismus recherchiert, zunächst in der Karibik, mich dann aber für den Schauplatz Afrika entschieden, weil das näher an Europa liegt und die Kontinente eine gemeinsame Geschichte haben», erklärt Regisseur Seidl der «NZZ am Sonntag». «Gedreht habe ich im Norden von Mombasa, wo jede zweite Touristin eine Schweizerin ist.» Teresas Freundin wurde nach dem Vorbild einer Schweizerin gestaltet, die nach dem Tod ihres Mannes zum Trost eine Afrikareise geschenkt bekam und als Sugar Mamma viele Illusionen sowie 50 000 Franken verlor.

Wie so viele österreichische Autorenfilmer leuchtet Seidl menschliche Abgründe schonungslos aus. Er stellt die Sextouristinnen bloss, wenn er in nüchternen, realistischen Bildern zeigt, wie Teresa und ihre Freundinnen sich mit kolonialem Machtgehabe an einem (minderjährigen?) Stripper vergehen. Seidls analytischer Film verweist aber auch darauf, was die Ursache solchen Verhaltens ist: die quälende Einsamkeit von älteren Frauen, deren Marktwert gesunken ist, weil ihre Körper nicht den Traumfiguren aus der Werbung entsprechen.

«Paradies: Liebe» ist der bisher eindrücklichste Film des Wettbewerbs, weil Seidl die Realität zwar in streng komponierten Bildern ästhetisch zuspitzt, aber keineswegs beschönigt.

Christian Jungen in der NZZaS vom 20.05.2012, Seite 57

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