Dienstag, 18. September 2007

Entsexualisierung der Gesellschaft

Ich habe das Problem ja schon einmal angedeutet. Es lässt sich unter "oversexed but underfucked" zusammenfassen. Nun geht die aktuelle Presse noch einen Schritt weiter und spricht von der damit eingetroffenen Sättigung. Man kann es nicht mehr hören. Der einst mächtigste Trieb, auf den v.a. Marketingexperten lange zählen konnten, hat ausgedient. Er ist tot.
"Sex ist eigentlich nicht so mein Ding. Sex ist eigentlich ziemlich blöde. Menschen beim Sex sehen unwürdig aus und benehmen sich unzivilisiert bis bescheuert." (2)
Gründe für die Sättigung:
- Drastik: Sexuelle Darstellungen, auch drastische, hatten einmal eine ernst zu nehmende Funktion im Kulturkampf gegen überkommende Moralvorstellungen und Prüderie.(1) Dieser Kampf ist abgeschlossen. Die Drastik wurde bedeutungslos.
- Tabubruch: Die Tabus wurden alle aufgebrochen.
- Leistungssport: Der Flirt zwischen Pop und Pornographie hat sich zum lasziven Imperativ ausgewachsen, dem nur die erotisch Fittesten noch folgen können. (...) Was 1969 (...) spielderisch begann, ist heute zum Wettbewerb der simulierten Orgasmen und des künstlichen Gestöhns geworden... Popkultur als sexueller Leistungssport.(1)
- Körpernorm: Die Differenz, die wahre Würze der Sinnlichkeit, ist am Schwinden.(1)

Die Pornographisierung des Alltags, die Kommerzialisierung der Liebe, Sexualneid und Leistungsdruck, die Angst vor dem ersten Mal, die inzwischen an eine ADSL-Verbindung gekoppelte Erektionsfähigkeit des Mannes...(2)
Robert Menasse beschreibt in seinem Buch (3) die kritisch-komische Geschichte eines 68ers, der den gesellschaftlichen Wandel hautnah miterlebt hat:
Von der Utopie der befreiten Sexualität zum zwanghaften Antispiessertum.
"Ich hatte nie ein so exzessives Sexualleben wie jetzt, wo Sex mich langweilt", seufzt Nathan. "Es gibt wahrscheinlich keinen Antrieb, der so gewaltig ist wie der, der in einem Mann zu glühen beginnt, wenn er die Lust verloren hat in einer Gesellschaft, die nicht einmal einen Liter Mineralwasser verkaufen kann, ohne die Ware erotisch zu besetzen."

"Was wir für Befriedigung halten, ist nur körperliche Erschöpfung", schlimmer noch: Leistungssport und Lüge der Konsumgesellschaft.
(1) Sven Boedecker, Eva Hess, Christian Hubschmid und Matthias Lerf in der SonntagsZeitung vom 16. September, Seite 49ff.

(2) Helmut Ziegler in der SonntagsZeitung vom 16. September 2007, Seite 51 über das Buch von F. Moldenhauer & T. Uebel (Hg.): "Sex ist eigentlich nicht so mein Ding". Eichborn, 246 S., 28,90 CHF.

(3) Martin Halter im Tagesanzeiger vom 17. September 2007, Seite 45 über das Buch von Robert Menasse: Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust. Roman. Suhrkamp, Frankfurt 2007, 276 S., 33 CHF.

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