Sonntag, 10. Oktober 2010

Momente der reinen Seligkeit

Es gibt immer wieder Augenblicke, wo ich an die Geborgenheit in beheizten Räumen denke, während draussen Schnee fällt, an den Kuss, der sich umso wärmer anfühlt, je kälter die Luft ist, an das klare Licht von Herbst und Winter, und dann denke ich, diese Jahreszeiten sind eigentlich auch ganz schön. Und dann wird es einmal mehr Sommer, und ich merke, dass das grosser Quatsch ist. Es gibt nur diese eine Jahreszeit. Die richtig ist. Die glücklich macht. Die alles gut macht.
Die Momente, in denen ich das verstehe, sind solche, an die ich mich erinnern werde, wenn mir dereinst jemand in irgendeinem mentalen Training sagen wird, ich solle mir ein Bild der reinen Seligkeit vergegenwärtigen. Es sind Momente, in denen die Hitze des Tages langsam abklingt, das Licht nicht mehr weiss gleisst, sondern gelb und sanft wird und die ersten Bierflaschen aneinanderklirren. In diesen Momenten ist viel Wasser, Fluss- oder Seewasser, und Badebekleidung. Die Haut ist trocken und sauber, oberflächlich kühl nach dem letzten Bad, der Schweiss und das Büro und die fettige Sonnencreme sind abgewaschen. Da sind nicht mehr: alle, die weg mussten, die Kinder heimbringen; abholen; zu einem wichtigen Abendtermin; eine Serie schauen. Es ist gut so. Da sind: Freunde, gern auch Bekannte, aber sogar Fremde sind einem nah in diesen Momenten. Der Sommer kann das.
Menschen sehen schön aus in diesem Licht. Es verfängt sich in den Haaren der Frauen, es gibt keine Frisuren mehr, nur noch Haare, was sie halt sind. Augenfarben verändern sich, vielleicht sieht man sie auch zum ersten Mal. Dieses Licht zeichnet die Kantigkeit der Männer weich. Das Gegenteil von dem passiert, was weibliche Journalistinnen aus Unzufriedenheit mit sich selber während dieser Zeit so verzweifelt postulieren — Schlankheit sei nun ein für alle Mal out, Rundungen und Weiblichkeit in: In diesen Momenten gibt es keine Diktate mehr, keine Evaluation, nur noch Körper, Männer und Frauen, was sie halt sind. Alle Wangen leicht gerötet, vielleicht wegen zu viel Sonne, wahrscheinlich wegen der Seligkeit. Verliebte haben rote Wangen. Vielleicht fühlt man sich selber verliebt, nur weil die anderen verliebt aussehen. Der Sommer kann das.
Es gibt nichts zu tun an solchen Frühabenden, als wie ein Kaltblüter dazuliegen und alles aufzusaugen, was man braucht. Die Zeit schmilzt. Nichts ist mehr wichtig, ausser genau dort zu sein. Man wird zurückversetzt in die Kindheit, in die schiere Freude am Sommer. Sommer hiess zwar vor allen Dingen grosse Ferien damals, denn Jahreszeiten sind Kindern egal. Aber er bedeutete schon damals genau dasselbe wie heute: der Ausblick auf zurechtgebogene Regeln, auf länger Aufbleiben, auf draussen sein mit Freunden, auf Quatsch machen, Spass haben. Sommer ist der Ausnahmezustand, der eigentlich Normalfall sein sollte. Wir legen uns auf den Boden, in allen anderen Jahreszeiten eine unvorstellbare Sache. Wir denken nicht mehr so sehr an die Zukunft, es geht nur noch um die endliche Unendlichkeit dieser Monate, im Hinterkopf die Erfahrung und Shakespeare: Denn kurz nur währt des Sommers Herrlichkeit. Wir werden wieder zu Menschen in dieser magischen Zeit. Nur der Sommer kann das.

Michèle Roten im Tagi-Magi vom 24.7.10

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