Zum Traum vom Süden gehört – ebenfalls seit mehr als zweihundert Jahren – auch der Albtraum. "Da überall ist das Paradies der Erde", schrieb der Bildhauer Ernst Rietschel 1930 aus der Gegend von Neapel, "oder es würde es sein, wenn keine Menschen dort wären, die die niedrigste Brut ist, die mir je vorgekommen." Seit den Anfängen des Tourismus gab es diese Ambivalenz: Mal wurden die Südländer bewundert, weil sie so ganz im Hier und Jetzt aufzugehen schienen, ohne sich allzu sehr ums Morgen zu kümmern, mal wurden sie gerade für diese Verantwortungslosigkeit und "Faulheit" verachtet. Das galt seit Goethe für die Italiener, erst recht dann aber für die Afrikaner und andere "Eingeborene". Von den ersten Entdeckern über die Kolonialisten bis zu den heutigen Reisenden prägt dieses Gemisch aus Faszination, Neid, Mitleid, Verachtung und Abneigung die Wahrnehmung der Fremde. Und bis heute gibt es eine Art Klimatheorie, mit der wir uns intuitiv die Mentalitätsunterschiede erklären: Die Kälte macht die Menschen kühl, rational, planend, kontrolliert, die Wärme macht sie warm, emotional, sorglos und ausschweifend. "Jedermann lebt in den Tag hinein, weil ein Tag dem andern gleicht und man sich auf keine Zeit des Mangels, keinen Winter vorzubereiten hat", schrieb schon Goethe 1797 aus Neapel.
Zu diesem Widerspruch gehört auch, dass wir einerseits unseren Lebensstil mehr oder weniger aggressiv auf der ganzen Welt durchsetzen, andererseits den Glauben hegen, dass gerade diejenigen den Schlüssel zum Glück besitzen, die sich der Zivilisation widersetzen oder (noch) entziehen können.
David Signer im Credit Suisse bulletin 2/10
Samstag, 26. Juni 2010
Nord- und Süd-Kulturen
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