Sonntag, 3. Oktober 2010

intellektuell verarmte Sozialdemokratie (D)

Fünf sozialdemokratische Parteien sitzen im deutschen Bundestag. Über die Sozialdemokraten braucht man nicht zu sprechen. Die Unionsparteien haben unter Merkels Führung sukzessive sozialdemokratische Positionen besetzt, und selbst ihre eigenen Anhänger sind nicht mehr in der Lage, Restbestände des einst hochgehaltenen Konservatismus zu finden.

Die Grünen haben ein Hauptthema, die Umwelt, das nicht zwingend eine bestimmte wirtschaftspolitische Ordnung voraussetzt, doch sie denken wie Sozialdemokraten: Sie wollen besteuern und umverteilen. Etwas anderes will auch die Linkspartei nicht…

Die Liberalen möchten den Mittelstand etwas entlasten, das ist alles. Im Übrigen schwimmen auch die Liberalen im breiten Strom der Mitte. Sie fördern Kultur und Wissenschaft, sie wollen den Sozialstaat und die soziale Marktwirtschaft.

Der breite politische Konsens verführt dazu, heikle Fragen zu verdrängen und intellektuelle Tabuzonen zu schaffen. Doch die «Debatte», die der Sozialdemokrat ausgelöst haben will, ist steril und oberflächlich geblieben. Nur ganz wenige Medien und Politiker haben sich mit seinen Thesen intensiv auseinandergesetzt. Die meisten beliessen es bei den bekannten rituellen Tänzen schneller Entrüstung und politischer Korrektheit. Das führt zwangsläufig zu intellektueller Verarmung.

Vieles spricht dafür, dass die Deutschen, wagte man nur etwas mehr direkte Demokratie, ihre D-Mark schon längst wieder hätten – nun, nach der Griechenland-Krise, erst recht. Dass sich Berlin niemals in Afghanistan engagiert hätte, steht fest; vielleicht hätte man sogar bereits der EU den Rücken gekehrt.

Das stimmt nachdenklich. Deutschland, so scheint es, ist mittlerweile so weit nach links gerückt, dass seriöse Debatten über die Nachhaltigkeit volkswirtschaftlicher Modelle nicht mehr zu führen sind.

Handlungsfähigkeit ist nicht das Privileg autoritärer Eliten. Nicht die Parteiendemokratie Deutschland, nicht das zentralistische Frankreich hat die Schulden gering gehalten, sondern die Schweiz, in der der angeblich so unzuverlässige, verschwendungssüchtige und leicht zu verführende Bürger überall dreinreden kann. Das sollte nicht zu Überheblichkeit verleiten. Aber es deutet an, dass sich etwas mehr Respekt vor dem Bürger lohnen kann. Zurückhaltende staatspolitische Vernunft kommt nicht von oben, sondern von unten. Sie wächst aus den kleinen Gruppen, aus den Familien und Gemeinden…

Ulrich Schmid in der NZZ vom 25.09.2010, Seite 57.

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