...dass der Mensch sich punkto Sex selten so verhält, wie das moralische Empfinden es gern hätte? Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei der Diagnose Sexsucht um die Pathologisierung eines Verhaltens handelt, das bis vor kurzem noch als Charakterschwäche durchging. Und das hat Folgen: Psychologen spezialisieren sich, es werden Programme und Sprechstunden angeboten, Selbsthilfegruppen werden formiert, vielleicht werden unheilbare Sexsüchtige bald auch eine IV beziehen dürfen.
Vom Dampfschiff aus gesehen handelt es sich hier um einen klassischen moralistischen Fehlschluss, was bedeutet, dass von einem Soll- auf einen Sein-Zustand gedeutet wird. Im Falle der Sexsucht heisst das, dass das moralisch wünschenswerte Verhalten, nämlich sexuelle Treue zum normalen und gesunden Verhalten gedeutet wird und alles, was davon abweicht, als pathologisch verstanden wird. Wenn notorische Fremdgeher wie Golfmillionär Tiger Woods, sich nachdem er erwischt wurde umgehend in eine Suchtklinik einliefern lässt, entspricht das einem öffentlichen Bussritual – ähnlich wie die koksende Kate Moss, die beim koksen erwischt wird und gleich ihre Rehab bucht, um danach geläutert wieder bei den Werbekunden anklopfen zu dürfen. Die Katholiken hatten die Beichte, in unserer säkularen Gesellschaft erlangen wir Absolution durch die Medizin.
Auch in Fachkreisen stösst die Modediagnose auf Skepsis. In seinem Buch «America’s War on Sex» kritisiert der US-Therapeut Marty Klein die Diagnose als moralischen Feldzug gegen den ganz normalen Sextrieb, der das wünschenswerte als normal hinstellt und alles, was abweicht als krankhaft. Dabei seien «gieriges Verlangen nach sexuellem Genuss und dunkle Phantasien Teil einer normalen Sexualität.» Für ihn ist klar, dass hinter der Trenddiagnose Sexsucht Moralapostel stehen, die «aus einem Verhalten, das sich in aller Regel völlig im Rahmen einer normalen Sexualität bewegt, eine Krankheit machen.»
Michèle Binswanger im Mamablog
Montag, 4. Juli 2011
Sexsucht gibt es nicht
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