Dienstag, 14. Juli 2009

Postdemokratische Desolidarisierungen im grossen Stil

Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus.

Wir leben gegenwärtig ja keineswegs „im Kapitalismus“ – wie eine so gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder suggeriert –, sondern in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano salis als einen massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage definieren muss. Offiziell heißt das schamhaft „soziale Marktwirtschaft“.

Die progressiven Einkommensteuer, die in der Sache nicht weniger bedeutet als ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung, mit dem bemerkenswerten Vorzug, dass sich die Prozedur Jahr für Jahr wiederholen lässt – zumindest bei jenen, die an der Schröpfung des vergangenen Jahres nicht zugrunde gingen.

Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben – und dies zudem auf missverständliche Weise, nämlich so, dass sie gesagt bekommen und glauben, man tue ihnen unrecht und man schulde ihnen mehr.

Tatsächlich besteht derzeit gut die Hälfte jeder Population moderner Nationen aus Beziehern von Null-Einkommen oder niederen Einkünften, die von Abgaben befreit sind und deren Subsistenz weitgehend von den Leistungen der steueraktiven Hälfte abhängt.

Die direkte Ausbeutung feudaler Zeiten wurde in der Moderne zu einer beinahe selbstlosen, rechtlich gezügelten Staatskleptokratie.

Der wenig plausiblen linken These von der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital hat die Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven längst den Rang abgelaufen.

Die Ausplünderung der Zukunft durch die Gegenwart. Die respektlose, nehmende Hand greift nun sogar ins Leben der kommenden Generationen voraus.

Peter Sloterdijk auf Cicero

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