Über die letzte Vorlesung von Michel Foucault zu «Der Mut zur Wahrheit» (Le courage de la vérité):
Die Vorlesung behandelt die antike Auffassung der sogenannten Parrhesie, das heisst des Vorrechtes, alles sagen zu dürfen — auch die unangenehmen Wahrheiten, die den Mitbürgern missfallen und welche die Mächtigen herausfordern. Die Parrhesie war das Fundament der athenischen Demokratie. Bis heute ist die freie Meinungsäusserung die unverzichtbare Voraussetzung eines demokratischen Staatswesens. Nur wenn Wahrheit zumutbar ist, können öffentliche Entscheidungsprozesse funktionieren.
Athen war die Wiege sowohl der abendländischen Philosophie als auch des westlichen Demokratie-Ideals, doch es bestand zwischen den beiden Zivilisationsleistungen von Anbeginn ein Gegensatz: Die klassische Philosophie stand der Volksherrschaft mit äusserster Skepsis gegenüber. Plato verurteilt in seinem «Staat» die Demokratie als Pöbelherrschaft, in der die Demagogen stets den Sieg über die Vertreter der Vernunft davontragen. Aristoteles ist der Mehrheitsregierung gegenüber aufgeschlossener, aber auch er erblickt in der Aristokratie die ideale Staatsform. Weshalb wurden die Philosophen zu Verächtern des demokratischen Staates? Foucault führt das Zerwürfnis zurück auf eine Krise der Parrhesie.
Denn das Recht, alles sagen zu dürfen, kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Einerseits kann es die Notwendigkeit benennen, ohne Rücksicht auf die Machtverhältnisse, die Wahrheit auszusprechen. Es entspringt einem Ethos der Wahrhaftigkeit. Andererseits besteht das Recht, alles sagen zu dürfen, auch darin, dass man jeden Unsinn erzählen darf. Es erteilt eine Lizenz zur Beliebigkeit. Foucault zeichnet in seiner Vorlesung nach, wie das Ideal der Parrhesie im klassischen Athen in eine Krise geriet: Ursprünglich war damit der Mut zur Wahrheit gemeint, doch mehr und mehr bezeichnete es nur noch die frivole Unsinnigkeit der öffentlichen Demagogie. Die klassische Philosophie wurde antidemokratisch, weil die athenische Demokratie ihr Wahrheitsethos verlor.
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