Donnerstag, 28. April 2011

Flüchtlinge aus Nordafrika


"Die sind in Gruppen ­organisiert. Wenn ich einen verrate, bringen mich die anderen um."
Zu den Schleppern
über die grüne Grenze ins Tessin
Die grüne Grenze zwischen Italien und dem Tessin erstreckt sich über einige Dutzend Kilometer. Doch nur rund acht Prozent versuchten, durch Gebirge und Wälder einzuschleichen. Die Hälfte aller illegalen Übertritte erfolgte auf einem kleinen Abschnitt von knapp zehn Kilometern bei der Grenzstadt Chiasso. Die Pfade, diskret gelegen und dennoch oft begangen, durchqueren manchmal auch Gemüse- und Hausgärten. Entlang der Grenze steht ein rostiger Zaun. Mussolini hat ihn einst aufstellen lassen. (...) «Die grosse Mehrheit setzt sich in Mailand oder Como einfach in den Zug und steigt in Chiasso aus, wobei sie den Weg zur Asyl-Aufnahmestelle in der Nähe bereits kennen.»
Chaos in Italien
Apulien, Hafenstadt Bari; 1400 Personen fasst das Lager, bis auf die letzte Pritsche ausgelastet, Baracken im Camp; Warteraum der clandestini und Asyl­vagabunden verwandelt (...) Das Lager hat zwar einen Zaun, doch die Türen stehen stets offen. Wer rauswill, kann dies jederzeit tun. Gegen Abend strömen die Tunesier zu Hunderten in die Innenstadt.

Die meisten bleiben keine drei Tage im Camp, dann ziehen sie los. Auch wer politisches Asyl oder subsidiären Schutz beantragt hat, verschwindet häufig aus den Unterkünften. «Gut fünfzig Prozent» betrage die Absetzungsziffer, weiss die Lager­leitung. In Wirklichkeit tauchen fast neunzig Prozent unter, ohne je ein Aufnahmeverfahren in Italien zu beantragen.
Italiens zweifelhafte Asylanstrengungen
Gemäss Recherchen der Weltwoche sind bei Schweizer Behörden Fälle dokumentiert, wo Immigranten nach Ankunft in der Schweiz angaben, bei der Einreise in Italien elektronisch erfasst worden zu sein. Bei Nachforschungen in der Datenbank Eurodac habe man jedoch nichts über die Personen gefunden. Haben die Italiener bewusst auf die Datenerhebung verzichtet, damit ein Zweitland die Flüchtlinge aufnehmen muss? Beweisen könne man es nicht, heisst es. Aber offenbar handelt es sich nicht um Einzelfälle.
Einfallstor unkooperative Türkei
Fast 12 000 Illegale habe die Türkei 2010 gefasst, dieses Jahr schon über 2000. Doch nur ein Teil davon könne in die Herkunftsländer zurückgeschickt werden. Viele Illegale probieren es immer wieder. (...) Trotz Ausreisebefehl können sie ungehindert ins Landesinnere ziehen.

Die EU und Griechenland verhandeln mit der Türkei über den Bau eines Zauns und die Rückübernahme der Illegalen, die über den Evros einreisen. Die Botschaft von Gouverneur Sözer ist deutlich: «Wir unterschreiben nicht, solange Türken für den Schengen-Raum ein Visum brauchen und wir nicht mehr Geld für den Grenzschutz erhalten.»
Überfordertes Griechenland
«Rapid Border Intervention Teams» der EU-Grenzschutzagentur Frontex: Gegen 200 Beamte sollen die Missstände beheben, doch: Die Frontex und Griechenland stoppen die illegale Einwanderung nicht, sie verwalten sie.

Über 50 000 Asylgesuche sind pendent. Die griechischen Behörden sind mit der illegalen Zuwanderung völlig überfordert

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Lebensverhältnisse und Verfahren für derart prekär erklärt, dass Rückführungen aus europäischen Ländern nicht mehr zulässig sind. Auch die Schweiz schickt keine Asylbewerber mehr zurück. Ein zentraler Bestandteil des Dublin-Abkommens ist damit faktisch ausser Kraft: dass jener Schengen-Staat für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig ist, in dem eine Person zuerst erfasst wird. Weil dieses System nicht funktioniert, ist Griechenland noch attraktiver geworden als Tor zu Europa. Wer es einmal über Griechenland in den Schengen-Raum geschafft hat, kann damit rechnen, jahrelang bleiben zu können.

Daniel Glaus und Urs Gehriger in der WeWo12.11, Seite 38ff.

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